Gnome 3: Der echte Erfahrungsbericht
Diese Woche wurde mit Gnome 3.8 zum ersten Mal eine Version des 3er-Zweiges von den Verantwortlichen meiner Distribution (Gentoo) auf „stabil“ gesetzt. Das bedeutet: Jeder Anwender bekommt das Update angeboten, auch wenn er nicht vorher an seinem System gebastelt und gedreht hat. Das und mein persönliches 2-Jahres-Jubiläum sind doch gute Anlässe, die damaligen ersten Eindrücke mit dem Erfahrungsbericht von vollen zwei Jahren Gnome 3 zu - nun, sagen wir: zu ergänzen. :)
tl;dr
Man soll neue Konzepte bei grafischen Benutzeroberflächen nicht voreilig verdammen, nur weil sie ungewohnt sind. Ich habe das bei Maemo 5 gelernt und die Lektion hat sich bei Gnome 3 wiederholt. Gnome benötigt in den aktuellen Versionen die Geduld der Ein- und Umsteiger. Man muß sich auf Neues einlassen und sich daran gewöhnen. Nach einiger Zeit lernt man die (meisten der) neuen Ideen zu schätzen, sie gehen schneller in Fleisch und Blut über als das seit mittlerweile Jahrzehnten gelernte Windows-95-Schema von Startknopf, Desktop und Statusleiste. Tatsächlich ertappe ich mich regelmäßig dabei, wie ich die typischste Mausbewegung von Gnome 3 auf allen möglichen anderen Systemen vergeblich auszuführen versuche - einfach deswegen, weil sie im Vergleich zu allem anderen so einfach, schnell und daher verführerisch ist.
„Einfach“ ist generell ein gutes Stichwort: Gnome 3 ist einfach in jeder Beziehung. Das betrifft nicht nur die Bedienung, sondern auch die bewußt schlichte Optik. Ich war einer der ersten, die den Wegfall von 100.000 Einstellungsmöglichkeiten, Menüs und Optionen bei Gnome 3 kritisiert haben. Ich war entsetzt davon, daß es keine Dateien und Programmsymbole mehr auf dem Desktop gibt. Ich konnte mir nicht vorstellen, in der täglichen Praxis mit dem übersimplifizierten Anwendungsstarter und seinen kindgerechten Symbolen zurecht zu kommen und kein verschachteltes „Start-Menü“ à la Windows mehr zu haben. Mittlerweile halte ich all diese Optionen, Desktop-Symbole und das Startmenü unter Windows kaum noch aus. Zu meiner Schande muß ich zugeben: Ich verapple. Einfach ist gut. Schön ist gut. Viele verschachtelte Optionen verwirren und stören mich. Das Entwicklerteam von Gnome 3 hat mich verführt, ohne mich einzusperren: Es gibt die weggefallenen Optionen alle noch irgendwo. Sie stehen nur nicht täglich im Weg.
Gnome 3 ist rundherum gelungen und für mich persönlich unter den drei großen Desktop-Umgebungen der GNU/Linux-Welt (KDE, Unity und Gnome) die beste Empfehlung.
The Good
Gnome 3 ist sauber und einfach. In meinem ersten Artikel zu Gnome 3 vom November 2011 war das noch ein Kritikpunkt. Das für mein damaliges Empfinden übertrieben aufgeräumte und auf einige wenige große Bedienelemente reduzierte Erscheinungsbild hat auf mich eher wie Babyspielzeug gewirkt. Inzwischen weiß ich: Die extreme Reduktion, sowohl von Optik als auch von Funktionalität, ist in der täglichen Arbeit am PC eine große Hilfe. Gnome 3 hat den Anspruch, mir die regelmäßig benötigten Inhalte und Funktionen möglichst einfach zugänglich zu machen, ohne den Blick darauf durch selten verwendete Optionen zu verstellen. Das gelingt hervorragend. Der tägliche Wechsel zwischen Gnome, Windows XP und Ubuntu mit Unity gibt mir Gelegenheit zum Vergleich … und der Vergleich macht mich sicher.
Ein konkretes Beispiel für die gelungene Vereinfachung ist die Gnome Systemsteuerung. Unter Windows ist dieser Teil ein Alptraum, in den alles verpackt wurde, womit man das System ruinieren kann. Die Gnome-Systemsteuerung zeigt dagegen nur einige wenige Einstellungen, die auch für den technisch nicht versierten Benutzer von Interesse sind. Man kann hier Spracheinstellungen ändern, die online-Konten (Exchange, Google, Flickr, OwnCloud, Facebook, …) definieren, neue Drucker einrichten oder ein neues Netzwerk konfigurieren … das wars dann aber auch schon. Seltsame Treiber-Einstellungen, Hardware-Auflistungen oder 150 Optionen zur Darstellung der Fenstertitelleisten sucht man vergeblich. Mit denen muß sich der Benutzer nicht belasten. (Wer unbedingt jeden einzelnen Aspekt des User Interface kontrollieren will, kann sich dafür die Gnome Tweak Tools installieren. Da gibts dann allein zur Tastatur 15 zusätzliche Einstellungen, deren Sinn ich nicht verstehe.)
Zur grundlegenden Bedienung: Die Verlagerung der gesamten Desktop-Steuerung (Programmwechsel, Start von Programmen, Suche, …) in die Zusatzebene „Aktivitäten“ erweist sich als der große Geniestreich der Gnome-Entwickler. Die einfache Mausgeste (Mauszeiger mit Schwung ins linke obere Eck, alternativ dazu kann man die Windows-Taste drücken) blendet links die Symbole für die am häufigsten benutzten Programme ein. In der Mitte erscheinen verkleinert die momentan geöffneten Fenster, rechts eine Übersicht über die virtuellen Desktops. Ganz oben ermöglicht ein Suchfeld die Suche in Programmen, Kontakten und Dateien. Mit einem Klick wird die Übersicht über die geöffneten Programmfenster ersetzt durch eine Liste aller installierten Programme.
Meine Erfahrung dabei: In 90% der Fälle reicht die Leiste mit den am häufigsten benutzten Programmen aus. Browser, Mail-Client, Grafikprogramm, Text-Editor, Terminal, … mehr brauchts nicht. Wenn doch einmal eine andere Anwendung benötigt wird, ist die Verknüpfung mit der Tastaturbedienung eine weitere Hilfestellung: Windows-Taste und gleich darauf den Programmnamen tippen funktioniert auch und ist manchmal schneller als der Weg über die Maus.
Das Fenstermanagement unter Gnome 3 ist geklaut, aber trotzdem praktisch. Das bequeme Anordnen von Fenstern, indem man sie an den linken, rechten oder oberen Bildschirmrand schiebt, macht das Arbeiten vor allem bei ausgedehnten Copy&Paste-Aktionen zum Vergnügen.
Apropos Fenster schieben: Ein gut durchdachtes Benachrichtigungssystem sorgt dafür, daß man sich überflüssige Fensterwechsel oft auch spart. So schieben sich zum Beispiel eingehende Chat-Nachrichten dezent als Benachrichtigung von unten in den Bildschirm. Man kann direkt darauf antworten, ohne extra das Chat-Programm in den Vordergrund holen bzw. überhaupt starten zu müssen.
Positiv ist auch, daß die Entwickler sich einige Kritikpunkte zu Herzen genommen haben. So ist die Standardaktion für das Beenden der Arbeit am PC in der Version 3.8 nun wieder „Ausschalten“ und nicht „Bereitschaftsmodus“. (Man kann immer noch mit der Alt-Taste zwischen den beiden Optionen wechseln.)
The Bad
In Gnome-Programmen gibt es de facto zwei verschiedene Menüs: Die Funktionen, die das aktuelle Fenster (bzw. Dokument) betreffen, werden wie gewohnt am oberen Fensterrand angezeigt. Einstellungen für das gesamte Programm sind in einem Menü am oberen Bildschirmrand verpackt, außerhalb des Programmfensters. Beispiel: Im Chat-Programm landen Einstellungen zu Chat-Servern, Logbücher über vorangegangene Unterhaltungen und allgemeine Optionen wie Klänge/Farbschema im globalen Menü außerhalb des Programmfensters. Im Fenster sind nur die Menüpunkte sichtbar, die sich auf die aktuelle Unterhaltung beziehen: kopieren und einfügen, Datei senden, Desktop freigeben, auf Videochat umschalten usw.
Das ist lieb gemeint und entspricht auch der Gnome-Philosophie, nicht benötigte Einstellungsmöglichkeiten möglichst aus dem Weg zu räumen. (Wie oft richtet man ein neues Chat-Konto ein? Wie oft sendet man dagegen eine Datei während eines Chats?) Unterm Strich empfinde ich es als verwirrend. Ich vergesse schlicht und einfach auf das zweite Menü, wenn ich eine bestimmte Funktion suche - vor allem dann, wenn ich mir nicht sicher bin, ob es sie überhaupt gibt und wie sie heißt.
Ebenfalls nicht so ganz optimal ist die Tatsache, daß man zum Umschalten zwischen zwei Programmen unbedingt entweder auf die Aktivitäten-Ebene wechseln oder Alt-Tab drücken muß. Das ist im Grunde der einzige Kritikpunkt, der von meinem Artikel aus 2011 übrig geblieben ist. Ja, ich habe mich mittlerweile daran gewöhnt. Trotzdem empfinde ich das einfache Klicken auf die Symbole geöffneter Programme in einer Statusleiste immer noch als bequemer. Dieser Punkt geht an Windows XP im Büro.
The Ugly
Aus Benutzersicht gibts nichts, was die Freude ernsthaft trübt. Wie gesagt: Vor allem im direkten Vergleich mit Unity (Ubuntu), KDE, Windows XP oder Windows Vista geht Gnome als Sieger hervor.
Wenn man schon meckern will, dann bietet der technische Unterbau Anlaß dazu: Zumindest derzeit verlangt Gnome 3.8 unter Gentoo zwingend den Umstieg auf ein komplett neues (und von Gentoo nicht besonders liebevoll behandeltes) Init-System, nämlich systemd. Egal wer das derzeit wie zu rechtfertigen versucht: Es ist einfach Unfug, daß man als Benutzer dieses Risiko eingehen muß, nur um die grafische Oberfläche zu wechseln. Bei mir liefs problemlos, ich hab aber im Web auch Berichte von Anwendern gelesen, bei denen unter systemd plötzlich keine Netzwerkverbindung mehr möglich war oder die grafische Umgebung nicht mehr funktioniert hat. So etwas ist einfach ein massiver Eingriff in ein System, und ich verstehe nicht, warum man den unbedingt aufgezwungen bekommt.
Empfehlung
Wer Gnome 3 fürchtet, weil er Negatives darüber gehört hat, solls einfach mal ein paar Wochen ausprobieren. Wers bereits ausprobiert hat und nicht mochte, soll sich fragen, ob die Probezeit lang genug war. Die Konzepte sind nun mal ganz anders und brauchen Eingewöhnungszeit. Ein Wochenende reicht dafür nicht aus. Ich hab mich durchgebissen und habs nicht bereut, daher empfehle ichs ruhigen Gewissens weiter.
Gute User Interfaces sind aber auch nicht nur intuitiv. Intuitiv muß ein UI dann sein, wenn man es nur selten und für kurze Zeit benutzt. Ein Bestellsystem bei McDonald's muß intuitiv sein oder ein Fahrscheinautomat.
Ein System, das man täglich benutzt, muß eine Balance zwischen einfacher Bedienung und Effizienz finden. Und da ist Gnome 3 dann doch eher auf der intuitiven Seite. (Was übrigens der Hauptkritikpunkt ist.)
Danke für den Hinweis übrigens: Ich muß mir angewöhnen, für Apple-User Alternativversionen der Artikel mit maximal 200 Zeichen anzulegen. Oder vielleicht überhaupt nur Comics? *gg* (Wie wärs fürn Anfang mit: „Gnome gut!“?)
Aktuell sind wir ja schon bei Windows 8.1, wobei ich immer noch 7 bevorzuge.
wenn Du mir erklären könntatest, inwieweit sich Windows 7 in den genannten Punkten von Vista oder XP unterscheidet.
Ich hab Vista und XP als Referenz genommen, weil das die beiden Versionen sind, mit denen ich am häufigsten konfrontiert bin, bei denen ich mir also am häufigsten mein Gnome zurückwünsche. Windows 7 ist der gleiche Scheiß, nur stellenweise noch um ein Eck komplizierter als alle Vorgänger zusammen. (Ich darf es jedes Mal genießen, wenn ich bei meinen Eltern in Linz bin - siehe dieser Artikel.)
Ob Windows 8.x irgendwas zum Positiven verändert im Vergleich zu Gnome, kann ich nicht beurteilen. (Die Reaktionen auf Windows 8 lassen eher das Gegenteil vermuten.) Da wäre dann aber auch - Deiner Logik nach - der Vergleich hinkig, weil Windows 8 ja 1,5 Jahre nach Gnome 3 erschienen ist. :)
Vista war eine Missgeburt und Win 7 die Erlösung, das beste Betriebssystem von Microsoft bisher.
Ja klar, Win 7 ist kompliziert :-)
Manchmal frage ich mich, wo ist die Welt, in der du lebst :-) ?
Das mit dem Textverständnis ist nach wie vor Dein Schwachpunkt, gell? Ich hab ja ausdrücklich geschrieben, daß Vista und Win7 sehr unterschiedlich sind. Win7 ist eben noch einmal ein Stück komplizierter.
Wozu ich Dich eingeladen habe war, mir den Unterschied zwischen den beiden Versionen in Bezug auf die von mir konkret angesprochenen GUI-Punkte aufzuzählen. Das bist Du mir bisher schuldig geblieben. Vielleicht liegt das ja auch daran, daß es bei diesen Elementen eben keinen Unterschied gibt. Startknopf, Statusleiste, Desktop mit Icons, verschachteltes Start-Menü mit kleinen Symbolen haben doch sowohl Vista als auch Win7, oder?
GNU/Linux: