Oskar Welzl: Weblog zur Homepage

Chess: One Night in Graz

Anthem Die Oper Graz hat seit 15. Oktober das Musical „Chess“ im Programm. (Eine kurze Einführung mit Ausschnitten aus der Produktion gibt es hier.) Seit seinem Erscheinungsjahr 1984 gehört das Stück von Benny Andersson, Björn Ulveaus und Tim Rice zu meinen Lieblingen. Die Gelegenheit, es endlich einmal in deutscher Sprache und als große, professionelle Produktion zu sehen, konnte ich mir einfach nicht entgehen lassen. Also ab in die steirische Landeshauptstadt, die eine durchaus gut kritisierte Produktion der Theater Chemnitz aus dem Jahr 2015 (auch zu der gibts ein Video) 1:1 übernommen hat.

Übrigens war das gar nicht so einfach: Die Vorstellung, einfach mal kurz nach der Premiere für ein Wochenende halbwegs vernünftige Karten zu kaufen, erwies sich als zu naiv. Wir mußten schließlich getrennt voneinander sitzen. Übers Theater verteilte Einzelplätze gabs gerade noch.

Bevor sich mein Lob über Regisseur, Übersetzer und Sänger ergießt noch eine einleitende Warnung und Einschränkung. Ein sehr weiser Mann hat 2009 über „Chess“ geschrieben:

Eine konzertante Aufführung ist das beste, was man dem Musical Chess antun kann: Sie lenkt die Aufmerksamkeit auf die brillante Musik und versucht gar nicht erst, der Handlung einen Rahmen zu bieten. Diese ist nämlich auch nach 25 Jahren noch verworren und lähmend uninteressant, trotz aller zwischenzeitlicher Bemühungen des Autorenteams. (Ich kenne kein Musical, an dem so viel herumgebastelt wurde. Geholfen hat alles nichts.)

Dies gilt auch heute noch uneingeschränkt. „Chess“ ist ein hervorragender Konzertabend, eine großartige CD. Ob daraus jemals echtes Musiktheater werden wird, bezweifle ich mittlerweile. Die in Graz gespielte Fassung (die sehr eng an das Konzeptalbum und die Londoner Uraufführung angelehnt ist) hat nichts dazu beigetragen, mich vom Gegenteil zu überzeugen. Tim Rice hat wunderbare Texte geschrieben für dieses Stück. Die Handlung aber hat er genauso verbockt wie die Zeichnung der Charaktere. Obwohl die Hauptfiguren auf der Bühne fast von Beginn an von einer großen Emotion in die nächste taumeln („Drama, Baby! Drama!“), obwohl Beziehungen zerbrechen, neue Paare sich finden, Leben zerstört werden und Karrieren auf der Kippe stehen: Es gibt niemanden im Publikum, den das nur ansatzweise interessiert. Schlimmer noch: Spätestens in der zweiten Hälfte des zweiten Aktes hat man ohne intime Vorkenntnisse aller existierenden Bühnenfassungen keine Chance mehr zu verstehen, wer gerade was von wem will … und warum.

Tim Rice hat dem Stück die Idee zugrunde gelegt, daß Menschen im Kalten Krieg von den USA und der Sowjetunion wie Schachfiguren benutzt und gegeneinander ausgespielt werden. Damit auch jeder die Analogie mitbekommt, läßt er die Handlung in einer fiktiven (aber lose dem Duell Spasski/Fischer von 1972 nachempfundenen) Schachweltmeisterschaft spielen und macht die Strategien der Drahtzieher im Hintergrund so wirklich, wirklich komplex - komplex wie Schach eben. Dieses auf mehreren Ebenen Abstrakte, Sympolhafte überlädt das Stück hoffnungslos und ist als intellektuelles Experiment interessant, nicht aber als große Pop-Oper. Im Genre des Musiktheaters will man doch eher in großen Emotionen schwelgen und am Schluß um die Helden weinen.

Ist „Chess“ also ein schlechtes Stück? Keineswegs. Nicht umsonst versuchen mittlerweile buchstäblich Generationen von Regisseuren, eine schlüssige Neuinterpretation zu finden. „Chess“ hat zwei große Stärken: Die Musik von Andersson und Ulvaeus einerseits und die zynisch-beißenden Texte von Rice. Man will es sehen und genießen. Wenn schon nicht als perfektes Musical, dann doch zumindest so gut es eben geht … Und damit sind wir mitten in der Grazer Aufführung. Die ist, unter dem Gesichtspunkt des oben Gesagten, so gut es eben geht im positivsten Sinne.

Thomas Winter hat sich handlungsmäßig nicht lange mit neuen Ideen aufgehalten und das Stück ganz eng am Londoner Original inszeniert. Das ist einerseits ein bißchen schade, weil die Londoner Fasung vielleicht gar nicht die gelungenste von allen war. Andererseits entspricht sie noch am ehesten den Vorstellungen der Autoren und ist zumindest in Hinblick auf die großen Hits am vollständigsten. Stichwork vollständig: Einige Szenen mußten dem Reisebuspublikum zuliebe dann doch dran glauben. In der Regel hat man sie durch kurze Dialoge ersetzt. Dafür ist „Someone Else's Story“ mit drin, das erst nachträglich für die Broadwayfassung geschrieben wurde.

Die größte Leistung dieser Inszenierung ist das Bühnenkonzept, das von herrlich kitschigen Alpenszenen (in „Merano“ oder „Mountain Duet“) nahtlos in eine sehr abstrakte Formensprache übergeht. (Wenn ich erzähle, daß der Form des Quadrats in vielen Szenen eine zentrale Rolle zukommt, klingt das im Kontext von „Chess“ mäßig originell. Die Art der Umsetzung, die Art der Nutzung vor allem ist aber beeindruckend.) Die Abstraktion liegt dem verkopften Stück. Ihren Höhepunkt finden Bühne und Personenführung dort, wo auch die Musik ihn hat: Am Ende des zweiten Aktes im „Endgame“. Ein großartiger Theatermoment!

Wenn man Thomas Winter etwas vorwerfen kann, dann sind es manche nicht ganz passende Änderungen in der Reihenfolge der Szenen. Warum er zum Beispiel „Nobody's Side“ nach das „Montain Duet“ stellt, kann man zwar erahnen: Das Konfliktpotential ist in dieser Situation größer. Dennoch paßt es an dieser Stelle nicht mehr so gut. „Nobody's Side“ erzählt von Florence's beginnender innerer Ablösung von Freddie. Nach ihrem Treffen mit Anatoly ist sie emotional schon einen Schritt weiter, „Nobody's Side“ wirkt fehl am Platz.

Bezüglich der Besetzung hat die Grazer Oper alles richtig gemacht. Die weibliche Hauptrolle Florence spielt Annemieke Van Dam. Wir haben sie 2013 in „Elisabeth“ kennengelernt und waren damals nicht uneingeschränkt begeistert. Ihre Rolle in „Chess“ liegt ihr stimmlich wesentlich besser. Mit ihrem „Nobody's Side“ reißt sie das Publikum zu Begeisterungsstürmen hin.

Marc Lamberty als Freddie hat mit seiner Rolle den schwarzen Peter gezogen. Nicht nur ist er der böse Fiesling … die Komponisten geben ihm auch wenig Chancen, gesangliche Nuancen herauszuarbeiten. Freddie schreit oder („One Night in Bangkok“) rappt. Allerdings weiß man, wenn man das Stück kennt, wo Marc Lamberty scheitern hätte können: „Pity The Child“ hat der Teufel geschrieben. Ich bin verspannt im Zuschauerraum gesessen und hab drauf gewartet, daß seine Stimme bricht. Sie ist nicht gebrochen. „Sei nie ein Kind“ (so der deutsche Titel) hat er auf den Punkt serviert - und „Tauch ein in Bangkok“ auch, eh klar.

Der große Star war zweifellos Nikolaj A. Brucker als Anatoly. Ich kann mich nicht erinnern, seit dem Konzeptalbum von 1984 einen so intensiven Russen gehört zu haben. Anatoly hat im Stück - anders als sein amerikanischer Gegenspieler - viele schöne Melodien zu singen. Seine großartigste Szene ist „Anthem“, das Finale des ersten Aktes, von Thomas Winter auch gänsehautmäßig und mit aktuellem Bezug auf die Bühne gebracht. Der Schlußapplaus für Bruckners Leistung an diesem Abend war ehrlich verdient.

Von den sonstigen Rollen (Svetlana: Katja Berg; Molokov: Wilfired Zelinka; Walter: Richard Friedemann Jähnig) ist vor allem der als „Schiedsrichter“ namenlose Sven Fliege hervorzuheben. Er wird eigentlich nur benötigt, um die bockige Handlung als Erzähler voranzutreiben, wenn sich wieder einmal keiner auskennt. (Bezeichnend, daß Tim Rice die Rolle überhaupt hineingeschrieben hat.) Im Grunde hat sein Charakter kaum Profil und interagiert nur oberflächlich mit den restlichen Figuren. Sven Fliege gibt ihm nicht nur eine wunderbar rockige Stimme, sondern auch eine herrlich exzentrische Bühnenpräsenz. Bravo!

Erwähnenswert noch: Selten kommt es vor, daß eine Musicalproduktion das Opernballet im Tutu auf die Bühne holt und en pointe tanzen läßt. In „Chess“ passiert das gleich mehrfach zur Visualisierung der an sich schwer szenisch zu erzählenden Schachturniere. (Warum zum Teufel mußte Rice auch ein Musical über Schach schreiben?) Was am Anfang noch zu hörbaren Irritationen vor allem im Abo-Publikum geführt hat, war schließlich einer der Höhepunkte des Abends. Andersson und Ulvaeus haben ein wunderschönes Thema für diese Spiele gefunden, das Choreograph Danny Costello überraschend „schachmäßig“ umgesetzt hat. Auch hier werte ich den Schlußapplaus als Beleg dafür, wie gut das zunächst genrefremde Element schließlich gefallen hat: Das Ballet ist in etwa auf die gleiche Lautstärke gekommen wie einige Hauptdarsteller. ;)

Bleibt als letzter Name Kevin Schroeder: Er hat die deutschen Texte zu verantworten. In Bezug auf die Aufführung in Chemnitz habe ich für mich überraschend viele negative Reaktionen auf seine Arbeit im Internet gelesen. Er hätte die Feinheiten des Originaltextes zu sehr glattgebügelt, heißt es da. Ganz nachvollziehen kann ich das nicht: Tim Rice in einer Übersetzung gerecht zu werden ist ein harter Brocken … und vielleicht gar nicht der Anspruch, den man als Zuseher stellen sollte. Viel wichtiger ist, daß die Texte ungekünstelt und den Charakteren angemessen wirken. Bei wie vielen Musicalübersetzungen haben sich schon meine Zehennägel aufgerollt, weil ein für die Szene essentieller englischer Satz nur unter massiver Mißhandlung meiner Muttersprache auf ebensoviele deutsche Silben verteilt werden konnte. (Kann sich noch jemand erinnern an Dieser Schock bis ins Mark bei dem Anblick von ihrem Gesicht?) Schroeders Übersetzung ist zeitgemäß und wirkt natürlich, so als hätte er selbst das Stück auf Deutsch geschrieben. Das ist mir viel wichtiger als angebliche Nuancen in einem Stück, dessen Charaktere gerade mal so viel Tiefe haben wie ihre Beschreibung im Programmheft.

Ist „Chess“ in Graz eine Empfehlung wert? Jedenfalls für jeden, dem die Musik auf CD gefällt. Die Sänger sind hervorragend, die szenische Umsetzung optisch beeindruckend und durchdacht. Daß die Handlung ein Krampf ist, weiß jeder Chess-Fan ohnehin. Wer von „Chess“ nur „One Night In Bangkok“ aus dem Radio kennt und einen üblichen Musicalabend mit sterbenden Heldinnen erwartet, wird vielleicht enttäuscht nach Hause gehen - genau wie jene, die der Komponisten wegen ein Stück wie „Mamma Mia!“ erwarten.

Die „große Nummer“, die komplette Neuerfindung des Stücks, die Fassung, die jeder Fan gesehen haben muß, ist die Aufführung in Graz auch nicht. Das war wahrscheinlich eher die englische Tourneeproduktion aus dem Jahr 2010, die in dieser Form vermutlich aber eher auf kleineren Bühnen funktioniert.

 
Wolfi (Gast) meinte am :
Na schau an!
Kaum erwähnt man kurz, dass '...etwas mehr Kültür Deinem Blog gut tue', kommt auch schon die nächste Bombe daher... ;-)

Klingt sehr nett... war spannend zu lesen.
Ihr hattet sicher an netten Abend. Sehr fein! :-) 
ossi1967 antwortete am :
Hihi...

Ja, ich hab mir ja auch gedacht: Wenn der Herr Schlosser die Kulturhuschigkeit schon so vehement einfordert, dann kauf ich halt in Gottes Namen die Karten. Mach ma ihm halt die Freud. *LOL*

 
Wolfi (Gast) antwortete am :
Der Schlosser dankt...
...und macht einen höflichen Kulturknicks :)

(Siehst? So einfach funktioniert diese subtile Kunst-Verführung: Ich muss Dir halt einfach nur sagen, was Dir gefällt und schon kaufst Du Karten. *LOL*
Ich bin halt voll der subtile Kültür-Fixer. *gacker*) 
ossi1967 antwortete am :
Fix!

Oh yeah. So einfach und so subtil. *LOL*